L’inseguitore

Karl, der Held dieses in Stuttgart spielenden Romans, ist nach vierzigjährigem «schulischen Frondienst» auf einmal frei, seinen Wünschen nachzugehen und ein Intellektueller zu werden. Also steckt er das Telefon aus, schaltet sein Handy aus, vergräbt seinen Laptop in einer Schublade, setzt sich auf einen unbequemen, jede Ablenkung vorbeugenden Stuhl und kann sich nun endlich denjenigen Wissensgebieten widmen, die zu pflegen seine Arbeit ihm unmöglich gemacht hatte. Doch nach einem Monat tapferer Anstrengung muss er feststellen, dass sein Gehirn immer noch das von früher ist, nämlich «träge, langsam, und bei dem das Verstehen ein mühsamer, umständlicher Prozess ist, nie der jähe Funke, der einen ganzen Ideenzusammenhang plötzlich erhellt». Dann holt er, ohne eine besondere Absicht zu haben, den Laptop wieder aus der Schublade und fängt an, durch Facebook zu streifen. Hier nimmt auch die eigentliche Geschichte ihren Lauf, die nicht in der ersten Person erzählt ist, sondern ‒ wie bei De Marchi üblich ‒ in einer atemlosen erlebten Rede, die sich hin und wieder in einen inneren Monolog verwandelt.
Es handelt sich, zumindest beim ersten Blick, um eine Liebesgeschichte, da Karl dank Facebook eine viel jüngere Frau trifft, Gabi, mit der er eine unerwartet tiefe Beziehung eingeht. Verständlicherweise ist er zuerst misstrauisch und befürchtet, die junge Frau wolle sich nur über ihn lustig machen. Erst allmählich legt er seinen Argwohn ab und nimmt verwundert zur Kenntnis, dass Gabi seine Liebe gänzlich erwidert. Allein hat Gabi ihr eigenes Leben: Sie arbeitet in einem nicht näher genannten Ministerium und verlässt oft die Stadt ohne von sich tagelang hören zu lassen, dann erscheint sie plötzlich wieder ‒ übermütig, ironisch, hingebungsvoll, um Karl in flüchtigen Begegnungen jene Lebensfreude zurückzugeben, die für ihn halb vergessen in der Vergangenheit lag. Dann verschwindet sie wieder, und wieder muss er mit seiner Einsamkeit zurecht kommen. Doch das vollständige Fehlen menschlicher Kontakte und jedes Soziallebens, das ihm früher gar nicht schwergefallen war, ja das er sogar zu seiner Lebensweise gemacht hatte, entpuppt sich jetzt als eine kaum zu ertragende Leere.
Vor dieser Leere rettet ihn zum Teil ein alter Freund, dem Karl zufällig während eines Spazierganges wieder begegnet: der Italiener Carlo, ein extrovertierter Arzt, der eine (verbal) überbordende Sexualität an den Tag legt. Vor vielen Jahren, bevor sich die beiden aus den Augen verloren hatten, hatte Carlos Freundschaft Karl über seine zweite Ehekrise hinweggeholfen. Nun haben sie sich wieder gefunden und gehen zusammen in diesem oder jenem Wald spazieren oder sie treffen sich abends in einer italienischen Trattoria, der Carlo all die Jahre treu geblieben ist. Sie reden, scherzen, lachen, mindestens einmal streiten sie sich, ein anderes Mal erzählen sie sich ihre Lebensgeschichte ‒ und diese Geschichten bilden fast zwei kleine Romane im Roman. Ein kleiner Roman im Roman ist übrigens auch die «Miniaturhochzeitsreise», die Gabi Karl dann doch gewährt: drei aufeinander folgende Ausflüge in schöne schwäbische Ortschaften. Es ist aber nur eine kurze Zwischenzeit, bevor Gabi zu ihrem erfüllenden und ‒ für Karl ‒ undurchschaubaren Leben zurückkehrt. Als es klar wird, dass sie bald versetzt werden wird (sie selbst weiß nicht, ob in eine andere Stadt oder ins Ausland), und als gleichzeitig der italienische Freund erkrankt, ist Karls Einsamkeit vollständig. Hier schlägt die dem Ende zugehende Erzählung einen höheren Ton an und wird quasi zur illusionslosen Meditation über die Zeit, während sich von ferne «die Auflösung der persönlichen Identität» ankündigt: der Tod, diese «gedankliche Unmöglichkeit», diese «unüberbrückbare Grenze der Vorstellungskraft», der es nicht gelingt, sich «das Abreißen des Fadens zu vergegenwärtigen, der uns an unser Bewusstsein bindet: Wir wissen nur, dass der Faden trotzdem abreisst». 

© 2019 Cesare De Marchi

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